11.4 Richtcharakteristik
© M. Zollner 2008 - 2014
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11.4 Richtcharakteristik
Wenn ein Lautsprecher Schall abstrahlt, entsteht um ihn herum ein
Schallfeld
, d.h. ein Raum-
gebiet, dem als Funktion von Raum und Zeit physikalische Größen zugeordnet werden. Beim
Schallfeld sind diese Größen der Skalar
Schalldruck
(
p
) und der Vektor
Schallschnelle
(
v
).
Beide Größen sind nicht nur zeit-, sondern auch ortsabhängig. In Lautsprecher-Frequenz-
gängen ist meistens der "auf Achse" gemessene Schallpegel angegeben, d.h. der Schallpegel,
der z.B. 1 m vor der Membran entsteht. Weicht man mit dem Messpunkt um einen bestim-
mten Winkel (z.B. 30°) von der Achse ab, erhält man einen anderen Frequenzgang. Ursache
für diese Frequenzgang-Unterschiede sind Laufzeitunterschiede (Interferenzen) zwischen den
von verschiedenen Membrangebieten emittierten Schallwellen – Effekte, die unter dem Be-
griff
Bündelung
oder
Richtcharakteristik
zusammengefasst werden.
In einer ersten Vereinfachung beschreibt man eine Lautsprechermembran als formstarr
schwingende Kreisplatte (Kolbenmembran), und wendet zur Erklärung der Richtcharakteristik
das aus der Optik bekannte Huygenssche Prinzip an: Jede differentiell kleine Teilfläche der
Membran emittiert eine Kugelwelle, alle diese Kugelwellen überlagern sich im freien Schall-
feld zur abgestrahlten Schallwelle [3]. Für einen Messpunkt, der sich in großer Entfernung
(im "Fernfeld") auf der Lautsprecherachse
befindet, müssen alle Schallwellen in etwa densel-
ben Weg zurücklegen – sie kommen gleichzeitig (gleichphasig) an. Für einen anaxialen Mess-
punkt unterscheiden sich jedoch die Schallwege, es kommt zu Phasenverschiebungen, damit
zu Auslöschungen, und zur Strahlbündelung. Bei tiefen Frequenzen (= große Wellenlänge) ist
der Wegunterschied relativ gering, die Bündelung ist schwach ausgeprägt. Mit zunehmender
Frequenz wird aber die Wellenlänge kürzer (
λ
=
c
/
f
), und damit bewirken auch schon kleine
Wegstrecken (z.B. 5 cm) eine merkliche Phasenverschiebung (genauer in [3]). Somit strahlt
der Lautsprecher im tieffrequenten Bereich nicht bündelnd (kugelförmig) ab, mit wachsender
Frequenz wächst auch die Bündelung. Als Grenze definiert man meistens die Frequenz, deren
Wellenlänge gerade auf einen Lautsprecher-Umfang passt, das sind bei effektiven 27 cm
Durchmesser
→
f
g
= 400 Hz. Ein 12"-Lautsprecher hat somit
näherungsweise
(!) zwei ver-
schiedene Abstrahlungscharakteristiken: Unter 400 Hz nicht bündelnd, über 400 Hz eine fre-
quenzproportionale Bündelung. Sagt die einfache Kolbenmembran-Theorie.
Nun zeigen aber Lasermessungen (Kap. 11.3), dass die Membran schon ab 350 Hz nicht mehr
formstarr schwingt, sie "bricht auf". Konsequenz: Die Kolbenmembran-Theorie bricht auch,
und zwar zusammen. Etwas konzilianter formuliert: Ab 350 Hz verlässt man den Gültigkeits-
bereich des Kolbenmembran-Modells. Nun ist es ein Leichtes, eine Theorie ad absurdum zu
führen, und ein Schwieriges, anstelle ihrer eine bessere Theorie zu präsentieren. Natürlich gibt
es sehr mächtige Formeln, deren globale Kraft kaum zu erschüttern ist, z.B. rot(
v
) = 0. Mit
Kenntnis der (ortsabhängigen) Membranschnelle kann, nun schon etwas spezieller, die abge-
strahlte Welle als Integral formuliert werden, das zumindest numerisch gelöst werden kann.
Näherungsweise, versteht sich. Mit
einer
Integralgleichung ist es aber nicht getan, da sich das
Partialschwingungsmuster der Membran schon bei kleinen Frequenzänderungen (z.B. +5 Hz)
stark ändern kann. Und natürlich braucht man die Lösung nicht nur für
einen
Raumpunkt,
wenn Richtcharakteristiken darzustellen sind. Weil nun die numerischen Verfahren zur Be-
rechnung der Schallabstrahlung aufwändig sind (und noch aufwändigere Messungen voraus-
setzen), kann sich neben der analytischen Beschreibung die reine Messtechnik immer noch
behaupten: Frequenzgänge für verschiedene Richtungen messen, Polardiagramme für ver-
schiedene Frequenzen messen, frequenzabhängige Richtungsmaße im Reflexionsarmen Raum
oder/und im Hallraum ermitteln. Die folgenden Darstellungen nehmen die Kolbenmembran-
Theorie als Ausgangspunkt, und vergleichen ihre Aussagen mit Messergebnissen.